September 2007

Mein erster Marathon
Von Tilo Buschendorf


Tilo Buschendorf


April 2005. Uniklinik Dresden. Seit 14 Tagen liege ich hier auf der Station und bekomme meine zweite Chemotherapie. Noch geht es mir einigermaßen gut. Meinem Bettnachbar geht es nicht viel besser. Wir reden über Dieses und Jenes, über Hobbys, Familie und so weiter. Was ich mir denn vor genommen habe, wenn die ganzen Therapien überstanden sind, will er wissen. Ob ich denn den Laufsport an den Nagel hängen werde. „Ich werde 2006 zweimal einen Halbmarathon laufen und, so Gott will, 2007 einen ganzen Marathon laufen. Das ist mein Ziel.“ „Und, dass schaffst Du,“ fragt er ungläubig. „Ja, das schaffe ich,“ antworte ich mit Überzeugung.



Jetzt stehe ich am Start zu meinem ersten Marathonlauf. Vor mir liegen 42,2 km bis zum Ziel. Werde ich es schaffen? Dreimal bin ich im vorigen Jahr zu einem Halbmarathon gestartet. Von Mal zu Mal ging es besser. Heute nun, will ich mein Versprechen einlösen und einen ganzen Marathon laufen. Wochenlang habe ich hart trainiert. Streng nach den Vorgaben von Thomas, den Trainer unser Laufgruppe. Moni immer an meiner Seite. Ob Tempoläufe oder langes Ausdauertraining, fast immer war Moni dabei. Wir fühlen uns fit. Ich fühle ein kribbeln im Bauch.



Die Stimmung am Start in Spergau ist riesig. Viele bekannte Gesichter unter den Zuschauern. Lauffreunde und Bekannte begrüßen uns und sprechen uns ihre Anerkennung aus. Je näher die Startzeit rückt umso aufgeregter werde ich. Wenn nur der Regen aufhören würde. Gestern noch Sonnenschein, heute Regen. Es ist zum aus der Haut fahren. Zum Schutz vor den Regentropfen haben wir uns einen Müllsack übergezogen. Das sieht lustig aus, ist aber äußerst wirkungsvoll. Petro musste sogar zwei Säcke zusammen kleben, weil er sonst nicht reingepasst hätte. Kurz vor dem Start gesellt sich Irene zu uns. Wir kennen uns von vielen Laufwettbewerben. Und noch einer ist gekommen. Rainer aus Burgliebenau. Leider ist er verletzt, kann nicht mitlaufen. Rainer will uns ein Stück auf seinem Fahrrad begleiten und ein paar Fotos von uns machen. Wir finden das toll. Mitten in unserem fröhlichen Disput, fällt der Startschuss. Ich drücke Moni noch einmal fest die Hand, und los geht es. Nur nicht so schnell. Das ist leichter gesagt als getan. Einige laufen zu schnell los, andere zu langsam. Wie soll man da sein richtiges Tempo finden. Sechseinhalb Minuten zeigt die Uhr nach dem ersten Kilometer. Zu schnell denke ich. Sieben Minuten war meine Richtzeit.



Nach zwei Kilometern laufen wir durch Fährendorf. Eine Gruppe steht am Straßenrand und feuert uns an. Alle mit Regenschirm. Sonst stehen wenig Zuschauer an der Straße. Wen wundert es, bei dem Wetter. Kilometer vier. Rainer macht seine ersten Fotos. Längst habe ich meinen Regenschutz entsorgt. Wengelsdorf ist erreicht. Der erste und zugleich steilste Anstieg. Trommler in historischen Kostümen stehen am Berg. Mit lautem Trommelklang treiben sie uns den Berg hoch. Ich ertappe mich, wie ich dadurch unbewusst schneller werde. Also bremsen. Vor mir ein Mann in meinem Alter. Der hat aber einen merkwürdigen Laufstiel denke ich. Ob der das durchhält? Er macht noch zwei, drei Schritte, dann läuft er rechts raus und fasst sich mit schmerzverzerrtem Gesicht ans Knie. Aus.



Die erste Verpflegungsstelle. Bekannte Gesichter am Straßenrand. Fröhliches winken. Ich greife einen Becher Wasser, winke zurück und laufe weiter. Der nächste Ort. Spergau. Hier bin ich aufgewachsen, hier bin ich in der Sportgemeinschaft organisiert. Viele Menschen stehen am Straßenrand, winken und rufen. Oft höre ich meinen Namen und winke zurück. So geht es durch den ganzen Ort. Am Kilometer zehn die nächste Verpflegungsstelle. Mein Magen hat sich bereits gemeldet. Ich greife nach Banane und Wasser. Moni und Irene, wir sind noch immer zu dritt, machen es ebenso. Am Straßenrand ein Autohaus. Dort feiert man Marathonparty. Regenparty wäre treffender. Ehrengäste? Ich haben keinen Blick dafür. Nur laufen, laufen, laufen immer weiter laufen. Leuna ist erreicht. Wir laufen über nasses, schmieriges Straßenpflaster. Da heißt es höllisch aufpassen. Von weitem ist Musik zu hören. Auf dem Haupttorplatz ist eine Riesenparty im Gange. Trotz Regen stehen doch viele Zuschauer an der Strecke klatschen Beifall und winken uns zu. Kinder strecken ihre Hände raus. Auch hier höre ich meinen Namen rufen. Freunde und Bekannte. Sie wissen welche Bedeutung dieser Lauf für mich hat. Und, immer wieder Rainer. Erfolgt uns wie ein Schatten.



In meinem linken Fußgelenk verspüre ich leichte Schmerzen. Nachwehen einer Trainingsverletzung. Das schlechte Pflaster macht mir zu schaffen. Das ist eine Zumutung, denke ich. Fast muss ich gehen. So geht es noch bis Merseburg. Immer wieder Stellen mit schlechten Straßenbelag. Zwischen Kilometer 18 und 19 passieren wir den Merseburger Markt. Zuschauer jubeln uns zu. Darunter viele Lauffreunde die wir persönlich kennen. Anfeuernde Worte schallen herüber. Wir winken zurück.



Das Feld der Läufer ist schon weit auseinander gezogen und wir laufen im letzten Drittel. Trotzdem stehen noch Zuschauer an der Strecke. Der Regen hat inzwischen aufgehört. Die Sonne kommt langsam durch. Nur, Rainer ist nicht mehr da. „Der ist sicher nach Hause gefahren“, sagt Irene. „Der wird pitschnass sein.“



Entlang des Flüsschens Klia geht es in Richtung Stadtrand. Der Weg wird enger. Wir müssen hintereinander laufen. Plötzlich sind drei Radfahrer hinter uns. Ich muss zu Seite springen. Sollte die Strecke nicht abgesperrt sein, denke ich ärgerlich. Aber schon sind sie vorbei. Im letzten Moment erkenne ich einen von ihnen. Der Weltmeister „Täve“ Schur. Ein paar freundliche Worte hätte der ruhig sagen können. Na ja, was solls.



Die Hälfte ist geschafft. Ich fühle mich wohl. Die Sonne scheint und die Schmerzen im Fuß sind weg. Auch sonst ist noch alles in Ordnung. Ich bin optimistisch, dass ich den Marathon schaffe. Noch dazu mit meinen beiden Frauen. Was soll da schon schief gehen? Seit dem Start bilden wir ein Trio. Unzertrennlich. Das heißt, plötzlich sind sie weg. Als ich mich umdrehe sehe ich sie nicht mehr. Was ist jetzt los denke ich. Nach einer Minute kommen sie hinter den Büschen an der Strecke hervor. Ich muss lächeln.



Weiter geht es. Irene, die seit dem Start mit Monika und mir läuft ist eine angenehme Laufpartnerin. Sie hat schon ein paar Jahre mehr Lauferfahrung. Wir richten uns mit dem Tempo nach ihr, sie sich nach uns. Ein optimales Tempo, bei dem wir nur an den Verpflegungsstellen kurze Gehpausen einlegen. Das ist gut so. Denn nach jeder Gehpause, selbst wenn es nur 50m sind, dauert es länger bis wir wieder unser gewohntes Tempo gefunden haben. Dann ein merkwürdiges Geräusch hinter uns. Wie von einem klapprigen Fahrrad. Wir drehen uns um und sehen: Rainer. Unser Streckenfotograf ist wieder da.



Kilometer 31 steht auf dem Schild neben der Strasse. Seit einiger Zeit spüre ich meine Waden. Ich habe das Gefühl, dass sie von Kilometer zu Kilometer immer dicker werden. Als würden sie jeden Moment platzen wie ein Luftballon. Hoffentlich bekomme ich keinen Krampf. Was dann? Bloß nicht stehen bleiben. Doch irgend etwas treibt mich weiter. Ich bin erstaunt wie Monika das verkraftet. Bisher hat sie gut mitgehalten. Moni ist stark.



Holleben kommt in Sicht. Meine Wadenmuskeln sind hart wie Stahl. Auch hier Riesenstimmung. Schon von weitem werden wir an unseren Startnummern erkannt. Cherleader bilden eine Gasse die wir durchlaufen müssen. Dazu Discomusik. Ein Höllenlärm. Immer wieder skandieren sie unsere Namen: „Tilo und Moni, Tilo und Moni...“ und „Irene, Irene...“ Was für ein Glücksgefühl. Nur mit Mühe kann ich meine Tränen unterdrücken. Die Schmerzen in meinen Beinen sind wie weggeblasen.



Angersdorf. Der letzte Ort vor Halle. Hier geht es noch einmal bergan. Noch sieben Kilometer bis zum Ziel. Die schaffen wir jetzt auch noch. Noch um ein paar Häuserecken in Halle-Neustadt, die Straßen sind fast Menschenleer, dann biegen wir auf die Magistrale ein, die Straße die Halle und Halle-Neustadt mit einander verbindet. Hier stehen kaum noch Zuschauer an der Strecke. Vereinzelt wird uns noch Beifall gespendet oder zugejubelt. Was solls. Wir freuen uns trotzdem. Dafür ist unser radelnder Fotograf noch da. Immer wieder fotografiert er uns. Dann fährt er voraus zum Ziel.



Längst bewegen sich unsere Beine automatisch. Immer vorwärts, immer geradeaus. Die Magistrale will kein Ende nehmen. Die Schultergelenke sind steif. Ich verspüre aber keinen Schmerz. Ein letzter Getränketisch. Schnell noch ein Schluck Cola und schon geht es weiter. Meine Beine spüre ich nicht mehr. Ich sehe Moni an und frage: „Alles o.k.?“ Sie nickt nur mit dem Kopf. Also weiter. Von weitem sehen wir am Straßenrand jemand winken. Als wir näher kommen erkennen wir den anderen Rainer, Irenes Ehemann. Jetzt ist Irene nicht mehr zu bremsen, zumal Moni mir bedeutet eine Gehpause einzulegen. Einen Kilometer noch bis zum Ziel. Nach 50m hat sich Moni erholt. Nochmals mobilisieren wir all unsere Kräfte und biegen bei herrlichen Sonnenschein auf die Zielgerade ein. Wir hören wie unsere Namen gerufen werden, fassen uns an die Hände und laufen jubelnd über die Ziellinie. Irene erwartet uns schon. Geschafft! Ich habe es tatsächlich geschafft. Wir umarmen uns und sind glücklich vor Freude. Jetzt kann ich meine Tränen nicht mehr halten. Ich habe mein Versprechen wahr gemacht und bin einen ganzen Marathon gelaufen. Ich habe allen gezeigt, was Menschen zu leisten vermögen. Das war mein Ziel. Jetzt bin ich überzeugt, dass das nicht mein letzter Marathonlauf gewesen ist.



Freunde und Bekannte kommen auf uns zu und beglückwünschen uns. Peter und Anett, meine Schwester, Rainer und Rainer und Andere. Was für ein Tag!