Mai 2016
Sri Chinmoy 12+24 Stunden-Lauf Basel
28. Deutsche Meisterschaften der DUV im 24-Stunden-Lauf
Von Sven Reißig

Sonntag, 1.Mai 2016 00:03Uhr. Es regnet. Seit 12 Stunden drehe ich in der Sportanlage St. Jakob in Basel meine Runden. Ich kann ein paar Böller hören. Feuerwerk? Kann man durch den Regen nicht erkennen. Gerade hat der FC Basel 1893 im 400m entfernten St. Jakob Park gegen den FC Sion die Schweizer Meisterschaft für sich klar gemacht. Das erfahre ich aber erst in ein paar Stunden. Ich erlaufe mir gerade den 100. Kilometer und bekomme für eine „Ehrenrunde“ die blaue Fahne. Egal wen ich überhole, egal wer mich überholt – es gibt einen kleinen Beifall oder ein paar aufmunternde Wort. Ich bin genau im Plan. Um es mit Torsten Sträter zu sagen: Läuft!
Ab in die Boxengasse heißt es in der Formel 1. Ich schnappe mir meine Sporttasche und wackele in die Umkleide. Trockene Sachen anziehen, aufwärmen, Füße kontrollieren und abschmieren. In der Umkleidekabine steht eine Frau am Haartrockner und wärmt ein Shirt an. Ihr Mann sitzt frierend auf der Bank - ist gerade aus der Dusche gekommen. Für ihn ist heute Schluss. Akku leer. Kalt. Keine Lust mehr. Während ich mich trocken lege, kommen wir ins Gespräch. Das Pärchen will schon um 6Uhr den nächsten Zug in die Heimat nehmen. Keine Lust auf Siegerehrung. In der Ecke sitzt apathisch ein anderer Sportler und tippt müde auf seinem Smartphone. Er wird wieder rausgehen und weiter laufen.
Ich habe mich inzwischen wieder fein gemacht – schon zum zweiten Mal – und trete wieder raus in die Nacht. Etwa 40 Minuten verloren. Egal! Läuft!

Wie kommt man dazu an einem 24 Stunden-Lauf teilzunehmen. Weil man es kann? Weil es einfach Spaß macht? Weil man in einer Bierlaune die Anmeldung ausgefüllt hat? Weil man Masochist und/oder Angeber ist? Weil man wirklich komische und nette Leute kennenlernt? Vielleicht etwas von allem.
Sigrid Eicher, Urgestein des (Ultra-)Marathon, antwortete nach dem Sieg der DM in der AK W75 auf die Frage, was einen antreibt, ungefähr so: „Bei einem Stunden-Lauf laufen alle gemeinsam, leiden gemeinsam und kommen gemeinsam ins Ziel.“
Das beschreibt auf jeden Fall einen Reiz dieses Wettkampfes. Wo kommt man schon mal mit einem Weltmeister, Europameister oder deutschen Meister gemeinsam ins Ziel? Bei den klassischen Strecken ist es für mich schon ein Problem, bis zur Siegerehrung überhaupt im Ziel zu sein. Aber auch die mentalen Aspekte eines solchen Rennens, mit hoher körperlicher Belastung, Energiedefizit und Schlafmangel, sind ein Herausforderung. Ein Teilnehmer meinte: „Bei einem 24h Stunden-Lauf sind 90% mental – der Rest ist Kopfsache!“
Aber von vorn. Irgendwann im Dezember kam die Information von der DUV, dass man die DM irgendwo im Süden Deutschlands austragen wollte. Man fand mit dem Sri Chinmoy 24 Stunden-Lauf in Basel einen Veranstalter mit großer Erfahrung und auch einem sehr guten Ruf.
Nachdem ich im Januar den ersten Marathon des Jahres vergleichsweise locker weggesteckt hatte, reifte in mir der Entschluss teilzunehmen. Nach einigen klärenden Emails füllte ich also die Anmeldung aus. Ich buchte neben dem Start auch noch ein paar Extras. So auch eine Übernachtung in der Zivilschutzeinrichtung (Schlafsack ist bitte mitzubringen). Dazu später mehr. Eine kniffelige Frage war in der Anmeldung vorhanden. Wie viele Kilometer willst du laufen? Was sollte ich da bloß eintragen. Meine bisherige Bestleistung mit 166km? Meinen Wunschwert von 200km, der laut meiner Waage allerdings unrealistisch ist? Ich habe länger darüber nachgedacht und mich mit mir auf 180km geeinigt. Das könnte realistisch sein, ist leicht zu rechnen (8Min/km) und wäre die Erfüllung der Norm für den Spartathlon. Also 180km eingetragen und Mail abgeschickt. Wenige Minuten später die Antwort aus der Schweiz, ob die 180km auch wirklich realistisch wären. Was? Kennen die etwa mein Kampfgewicht? Also so überzogen war das doch nicht! Ähm – ja. Die 180km waren wohl wirklich sehr sportlich – ich hatte mich im Eifer des Gefechtes für den 12 Stunden-Lauf angemeldet. Also noch mal eine klärende Email. Alles OK. Puh, das hätte schief gehen können.
Die Würfel waren gefallen - der Rubikon überschritten. Am 30.April 2016 12:00Uhr geht es los. Jetzt hatte ich noch 4 Monate Zeit mich vorzubereiten.

Sonntag 1. Mai 2016, 1:36Uhr. Es regnet. Noch 10:24 Stunden zu laufen und alles im Plan. 108km.
Noch 72 km. Das ist ein Rennsteiglauf. Selbst mein erster RSL war in weniger als 10h beendet. Hier gibt es keine Höhenmeter, keine Steine, keine Wurzeln. Das ist doch zu schaffen. Ich habe seit 0 Uhr meinen Rhythmus gefunden 3 Runden a 1101,430m laufen, dann Essen und Trinken im Gehen. Der Magen will eigentlich nicht mehr so richtig. Warmer Ingwertee hilft. Trotzdem ist es ein Balanceakt zwischen Kalorien durch Nahrung zuführen und Magen nicht überlasten. Nicht einfach! Egal!
Läuft!

Ich hatte also 4 Monate Zeit für die Vorbereitung.

Training!
Trainingspläne haben bei mir keinen echten Überlebenswillen! Schon kurz nach ihrer Aufstellung kann man sie schon wieder beerdigen. Ich laufe je nachdem wie Zeit ist und wie ich Lust habe, aber jeden Tag. Meine langen Läufe habe ich bei diversen Marathons dieses Jahr absolviert. Ansonsten konnte ich an einigen längeren Läufen mit der LG um den Geiseltalsee und den Osterlauf nach Freyburg teilnehmen. Eine Woche vor dem Termin wollte ich dann beim Leipzig-Marathon noch einmal meine Form testen, was aber kräftig in die Hose ging. Dort bin ich nach einer sehr ambitionierten ersten Runde aber so richtig geplatzt. Die Lernkurve war steil. Wichtigstes Fazit war: Am Anfang nicht überziehen!

Anreise!
Flugzeug? Bahn? Auto?
Da ich meinen halben Hausstand mitnehmen wollte und möglichst unabhängig bleiben wollte, wurde das Auto gewählt. Ich musste unbedingt ausreichend schlafen vor dem Lauf. Mit dem eigenen PKW wäre Gepäck kein Problem und die Möglichkeit, entspannt im Auto zu schlafen, wäre auch gegeben. Falls mir das Abenteuer Bunker nicht gefällt.

Equipment!
Jeder der mich kennt, weiß dass ich die Ausrüstung leicht überbewerte. Ich weiß das, lebe diesen Spleen aber konsequent aus. Ich habe mir eine wasserdichte Box besorgt, die meine Verpflegung und Utensilien für den Lauf aufnehmen sollte. Es war keine kleine Box! Da mein Magen bei den großen Anstrengungen leicht rebelliert, habe ich all die kleinen Zutaten für einen friedlichen Bauch in die Box geworfen. Darunter auch Schokolade, meine üblichen Milkyways, Chiasamen mit Ahornsirup, Salz, salzige Kartoffelchips, ISO zum anrühren und Cola. Dazu kamen diverse Tüten, Cremes und Kleinkram. Sogar Sonnencreme hatte ich mit. Da ahnte ich noch nicht, was mich erwarten würde. Kopfhörer, Zusatzakku, Smartphone, Fotoapparat (wasserdicht) und Laufuhr vervollständigten das Equipment. Zu dritt konnte man die Kiste ganz gut tragen – wenn man kräftig war. Der Wetterbericht sagte erst sonnig, dann bedeckt, dann leichter Regen. Ich entschloss mich vier komplette Outfits mitzunehmen. Weiterhin sollten vier Paar Schuhe mich begleiten. Ich hatte im letzten Jahr die Erfahrung gemacht, dass meine Füße irgendwann eine Abwechslung haben wollen. Wird es ihnen zu eintönig, dann schalten sie mit großen Schmerzen einfach ab. Und falls es regnen sollte, könnte ich die nassen Schuhe tauschen. Um das alles zu transportieren konnte ich endlich mein Geschenk vom Altenburg Marathon im letzten Jahr einweihen. Eine Sporttasche in der Größe eines Kleinwagens. Dazu noch Luftmatratze und Schlafsack. Fertig. Es konnte losgehen.

Sonntag 1. Mai 2016, 5:00 Uhr. 17 Stunden gelaufen. Müde. 134km stehen auf der Uhr. Noch 7 Stunden und 46 km. Läuft! Die 180km habe ich in der Tasche! Ich rechne schon wie viele Kilometer mehr möglich sind.

Da ich unbedingt viel und lange schlafen wollte machte ich mich am Freitagvormittag bereits auf den Weg. Knapp 700km.A9-A6-A5. Kurz vor der Grenze runter von der Autobahn, um die Schweizer Maut zu umgehen. Einmal im Berufsverkehr durch Basel und schon war ich gegen 16 Uhr bei schönstem Wetter auf der Sportanlage St. Jakob. Da es noch zu früh für die Anmeldung war, nutzte ich die Zeit für ein kleines Läufchen zum 3km entfernten Rhein. Einfach berauschend die Beine nach der langen Fahrt wieder richtig benutzen zu können. Dann schaute ich mir die Sportanlage genauer an, die ich bis dahin nur aus der Vogelperspektive von Google Maps kannte. Wow! Fußball-, Beachvolleyball- und Basketballplätze in unüberschaubarer Anzahl. Stadion mit Tartanbahn und überall Kinder beim Schul- bzw. Vereinssport. Ein Gewusel und eine Vielfalt die mich schwer beeindruckt hat. Gleich daneben die Heimstätte des FC Basel 1893 - der St. Jakob- Park. Das Fußballstadion ist gleichzeitig Sportstätte, Einkaufszentrum und Seniorenresidenz. Witzig!
Inzwischen war es 18Uhr und Zeit für die Anmeldung. Alles problemlos. Abendessen bei der „Pastaparty“. Hier bemerke ich zum ersten Mal den besonderen Geist der Sri Chinmoy Laufveranstaltungen. Neben der Starterliste und dem Wetterbericht liegt auch eine „Speisekarte“ für das Wochenende aus. Alles vegetarisch. Alles lecker. Ich freue mich schon auf den am Sonntagmittag angekündigten Gebratenen Tofu.
Nach meinen Recherchen zu Sri Chinmoy, dem Namensgeber von weltweit über 500 öffentlichen, zum Teil sehr extremen, Sportveranstaltungen, hatte ich erwartet Flyer für Meditationskurse vorzufinden. Da habe ich dem Veranstalter gehörig Unrecht angetan. Der Zusatz „Self Transcendence“ - „Hinauswachsen über sich selbst“, den viele Veranstaltungen im Namen tragen, passt vielleicht ganz gut zu einem Ultramarathon. Auch die Bedeutung von Wettkämpfen nicht darin zu sehen, den anderen zu besiegen, sondern sich gegenseitig zu inspirieren, sein Bestes zu geben und seine eigenen Fähigkeiten zu entfalten, wie Chinmoy es beschrieb, kann ich nachvollziehen.
Nach sehr interessanten Gesprächen beim Essen habe ich mir erst mal die Unterkunft angeschaut. Zivilschutzbunker! Bunker – hat seinen Namen verdient. 15 cm dicke Stahlbetontüren, luftdicht schließend – nichts für Klaustrophobiker. Geschlafen wird in einem Gestell. 6 Personen neben- und 3 Personen übereinander. Das erinnert mich etwas an das Feldlager bei der Armee. Dreht sich einer um, dann schaukeln alle anderen 17 Schläfer. Ich kenne einige der anderen Schlafgäste und entscheide mich spontan im Auto zu übernachten. Noch vor 22Uhr liege ich im Auto, lese noch etwas und schlafe dann fast ungestört bis 8Uhr morgens. Frühstück!

Sonntag 1. Mai 2016, 6:30 Uhr. 144km. Verdammt! Krise! Ich bin Müde. Mir ist kalt. Ich verliere pro Runde 1 Sekunde auf die 8 Min/km. Die Gehpausen zum Essen und Trinken werden immer länger und dabei kühle ich aus. Der linke Fußheber klagt. Ich klappere. Wahrscheinlich nicht so sehr wegen der Nässe und Kälte sondern wegen der Übermüdung und dem Energiemangel. Ich treffe die Entscheidung meine letzten trockenen Sachen anzuziehen. Boxenstop! In der Umkleidekabine werde ich nicht wieder warm und schlottere. Also ab unter die heiße Dusche. Das hilft. Ich ziehe jetzt alles an. 5 Schichten übereinander, Mütze darüber eine Schirmmütze, Kompressionsocken und lange Hose. Das ist eigentlich nicht mein Stil. Dazu neue Schuhe. Ich wärme mich noch kurz auf. … Es klopft an der Umkleidekabine!? Hä? Was? Verdammt! Es ist gleich 8 Uhr. Ich bin eingenickt! Die junge Frau vom ersten Boxenstopp kommt rein und sucht ein paar Sachen zusammen. „Wolltet ihr nicht 6 Uhr mit dem Zug fahren?“ frage ich. „Verpennt!“ ist ihre lapidare Antwort. Na das trifft sich ja. Raus in den Regen und „einwackeln“. Bis die Muskeln wieder in Schwung kommen und es wieder wie Laufen aussieht dauert es eine Runde. Ich liege jetzt bei einem Schnitt von 8:14Minuten/km. Zu langsam für 180km. 35km in 4 Stunden. Unter normalen Umständen kein Problem – in meinem jetzigen Zustand unwahrscheinlich.

Frühstück! Ich kletterte aus dem Auto und hörte den klaren Klang von reinstem sächsisch. Zwei Autos weiter parkten Gisela und Winfried Horn aus Werdau. Wer je in Werdau beim Waldmarathon war – Gisela gibt am Ende die Handtücher aus! Was für eine Freude. Die beiden sind hier in Basel nicht zum ersten Mal und alte Hasen beim 24 Stunden-Lauf. Während des Laufs werden mir die beiden eine echte Inspiration sein. Gemeinsam brachten Sie Runde um Runde hinter sich. Immer gemeinsam. Beide schon über 70 Jahre alt, werden sie das Rennen als deutsche Meister ihrer Altersklasse mit über 120km beenden. Jetzt brauchte ich erst Mal Kaffee und Frühstück. Danach geht es an die Vorbereitungen. Mit dem Shuttle ließ ich meinen Hausrat zur Rennstrecke bringen. Der Veranstalter stellte für alle Teilnehmer Pavillons mit Bänken, wo das Geraffel aufgebaut werden konnte. Während ich mich umzog und mein „Körpertuning“ durchführte, lies ich meinen Blick umherschweifen. Auf einigen Plätzen sah es aus wie in der Drogenküche von Walter White. So viele Sorten Pülverchen, Fläschchen und Spezialnahrung. Ich hatte ja wie berichtet 4 Paar Schuhe mit. Mein Nachbar Dietmar hatte 8 Paar dabei. Er sollte am Ende der Gesamtsieger werden. Ich wurde langsam nervös und versuchte bis zum Start zu entspannen. 12 Uhr ging es dann endlich los. Eine schöne Idee war die Webcam, die beim Durchlauf der Zeitnahme stand. Das Ereignis wurde live ins Internet gestreamed. So konnten die Daheimgebliebenen nicht nur via Liveticker die aktuellen Rundenergebnisse ein- sondern auch bewegte Bilder der Teilnehmer ansehen. Bei schönstem Wetter trabten alle an. Das Tempo war bei allen Teilnehmern moderat. Einer der Läufer meinte: „Die ersten 12 Stunden sind zum einlaufen.“ Schön war das man auch mal ein paar Runden mit den Profis mitgehen konnte, wenn man sich mal unterhalten wollte. Während ich zum großen Teil auf die Verpflegungsstation zurückgriff, ließen sich die Spezialisten durch Helfer ihre Verpflegung „anreichen“. Der Spruch des Tages war für mich: „In der nächsten Runde 2 Imodium!“. Auch die Spezialisten hatten ihre Probleme.

Sonntag 1. Mai 2016, 8:00Uhr. 146km sind geschafft. Ich versuche Zeit aufzuholen. Nächste Runde 8:13Minuten/km. Zwei Runden später 8:12Minuten/km. Zwei Runden später 8:11Minuten. Nein! Ich rechne und es wird nicht klappen. Chance verpennt! Ich gebe auf! Ich lasse mich jetzt austrudeln. Die Verpflegungspausen mache ich jetzt alle 2 Runden und sie werden länger. Es fehlt die Motivation sich jetzt noch zu schinden. Meinen Rekord von 166km werde ich brechen. Jetzt bekomme ich erst mal die Flagge für die 150km-Ehrenrunde. 10 Runden später gibt es die nächste Flagge zur 100Meilen-Ehrenrunde. Eine dreiviertel Stunde vor Ende passiere ich die Marke von 168,8km. Diesmal keine Flagge. Es ist die inoffizielle Marke für 4 Marathons. In die Webcam zeige ich wie viele Runden ich noch laufen werde. Noch 3, ... 2, ... 1. Nachdem die 170km erreicht sind schnappte ich mir meine Fahne und gehe meine Abschiedsrunde, bedanke mich bei allen Streckenposten und der Versorgungscrew. Die Fahne ist mit meiner Startnummer versehen und soll beim Abschlusssignal abgelegt werden. Ich gehe noch ein paar Meter mit der Fahne, lege sie dann ab und gehe zum Verpflegungszelt zurück. Dort lasse ich mich erst mal mit einem Kaffee versorgen. Leider schaffe ich es nicht ihn zu trinken, weil ich so vor Kälte zittere und den Becherinhalt auf dem Weg verteile. Naja – ich kriege Nachschlag. Etwas von der heißen Brühe landet dann auch in meinem Magen. Und während ich das Ende an der Verpflegungsstation verbringe pflügt wieder Maria an mir vorbei. Diese Motivation! Die Euromeisterin aus Schweden zieht immer noch ihre Runden, obwohl sie schon seit Stunden uneinholbar in Führung liegt! Mit 242,686km liegt sie am Ende über 32km vor der Zweitplazierten und hat nur 400m Rückstand zum Gesamtsieger Dietmar aus Österreich.
Das Abschlusssignal ertönt und es ist vorbei. Der Regen hört auf. Es ist irgendwie eine ausgelassene Stimmung. Es wird gescherzt, gratuliert und umarmt. Die Spannung ist wie abgefallen und es geht ans Wunden lecken.
Die Gespräche in der Umkleidekabine haben dann schon etwas Surreales, wenn ich mit Stu, dem Spartathlon-Gewinner, über richtige Fußpflege philosophiere oder darüber ob man elektrische Zahnbürsten unter der Dusche benutzen kann.
Es dauert eine gute Stunde, dann bin ich geduscht, habe dicke, warme Sachen an, Schmerzen und Hunger. Ich habe Muskelschmerzen. Wenn ich sitze, dann sitze ich. Aufstehen ist eine Qual und funktioniert nur mit Unterstützung der Arme. Es gibt Muskeln, von deren Existenz ich bis jetzt nichts wusste, die jetzt allerdings schmerzhaft auf sich aufmerksam machen. Man glaubt gar nicht wie viele Muskeln beim Niesen schmerzen können!
Die Siegerehrung beginnt und ich mampfe meinen gebratenen Tofu mit scharfen Linsen und Reis. Auf dem Teller neben mir steht mein kleiner Nachtisch. Kuchen getarnt unter Sprühsahne. Es folgt eine Siegerehrung, die für mich auf Grund der gleichzeitigen Deutschen Meisterschaft und des Sri Chinmoy 24-Stunden-Laufs, die jeweils unterschiedliche Altersklassen-Einteilungen haben, sehr verwirrend ist. Elegant sieht kaum jemand aus, der aufs Siegertreppchen darf.
Von mir kaum bemerkt ist um 24Uhr der 12-Stunden-Lauf gestartet. Dabei ist Sigrid Hoffmann das Kunststück geglückt, den 22 Jahre alten deutschen Rekord der W50 auf 122,492 km zu verbessern. Als die Leistung von Maria Jansson genannt wird, tobt der Saal. Kleine Interviews mit den Siegern lockern die ganze Veranstaltung auf. Und dann werde überraschend ich aufgerufen. Ich hatte noch gar nicht auf die Ergebnislisten geschaut. Schnell die Schlagsahne aus dem Mundwinkel gewischt und vor. Sechster in der M45.
Gegen 16 Uhr ist dann alles vorbei. Irgendwie habe ich mein Geraffel zum Auto geschafft. Dann ging es durch das menschenleere Basel. Ab auf den Heimweg. Ich sitze im Auto! Ich muss tanken! Aber ich sitze! Ich hoffe die Bilder der Überwachungskamera der Tankstelle landen niemals auf Youtube! Ich bin aus dem Auto raus gekommen ohne die Knie zu beugen. Ich bin auch zur Kasse gekommen ohne die Knie zu beugen. Und ich bin wieder eingestiegen ohne die Knie zu beugen! Es war kein schönes Bild. Ich entschließe mich etwas Ungesundes im „Drive in“ zu holen. Denn ich sitze! Danach stelle ich das Auto auf den Parkplatz, schiebe mich nach hinten auf meine Luftmatratze und schlafe erst mal ein bisschen. Der Plan ist bis gegen 20Uhr zu schlafen, dann möchte ich in Freiburg gut essen und dort übernachten.
Gegen 3Uhr nachts werde ich wach, als mir Kondenswasser aufs Gesicht tropft. Soweit zum Plan. Wie zum Hohn scheint den ganzen Rückweg über die Sonne. Irgendwann am Montag bin ich wieder im Heim, mache mir noch ein 4 Personen-Menü als Snack und sinke auf das Sofa. Gegen Abend gehe ich dann noch mal laufen. Elegant wie eine Gazelle stolpere ich los. Nach 500 Metern voller Schmerzen wird es langsam zu einer Art Joggen. Nach einem Kilometern wird es so etwas wie Laufen. Nach 2 Kilometern ist Schluss. Und ob man es glaubt oder nicht - es geht mir deutlich besser!

Inzwischen bin ich erholt und kann ganz gut laufen. Orthopädische Schäden habe ich nicht bemerkt. Die Kompressionsstrümpflinge habe ich etwas länger getragen, um die Waden zu entlasten. Das hat dazu geführt, dass mein linker Fuß angeschwollen ist. Das kannte ich allerdings schon und es war bald vergessen. Was nach 5 Tagen noch zu bemerken ist, ist eine gewisse Müdigkeit und ein erhöhter Schlafbedarf.
Die Zeitangaben für diesen Bericht habe ich der Laufanalyse meiner Uhr entnommen. So genau erinnere ich mich nicht mehr an die 24 Stunden. Einen großen Teil der Zeit bin ich einfach gelaufen. Meine Laufuhr hat übrigens für die 24 Stunden einen Energieverbrauch von 14.500 kcal berechnet. Das entspricht etwa 2kg Körperfett oder dem Energiegehalt von 28 Tafeln Schokolade. Leider habe ich auf der Waage keinen Effekt bemerkt. Also keine gute Variante zum Abnehmen. Trotzdem freue ich mich auf die 28 Tafeln!

Sven Reißig

http://ch.srichinmoyraces.org/self-transcendence-1224-stunden-lauf-basel
http://www.ultra-marathon.org/

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